von Thomas Glavinic:
"Bist du lebensmüde?"
"Nein", sagte Jonas, "nur neugierig."
Ewig stürzen. Das ist Glück.
"Du weißt wenig über Österreich, wie?"
"Mozart, Schnitzel, Skifahren."
Steigen. Pickel in die Wand, Fuß in die Wand. Wieder ein Meter. Noch einer. Noch einer. Irgendwann wirst du ganz oben sein. Aber was machst du dann? Außer wieder runtergehen und noch immer du sein?
Die wirklich Verurteilten dieser Welt sind die, die sich an den paradiesischen Urzustand vor ihrer Geburt erinnern können, weil nichts, was sie in dieser Welt erleben werden, an das heranreicht. Weißt du das?
Ich glaube, in ein paar hundert Jahren wird man die Tatsache, dass wir Tiere gegessen haben, auf eine Stufe mit der Sklaverei stellen. Nicht zuletzt wegen der Art und Weise, wie wir sie gehalten haben und was wir ihnen dabei angetan haben.
Ich weiß, dir ist viel zuzutrauen, du hast immerhin den Aconcagua geschafft, und das ist ein schwerer und widerlicher Berg. Hier bist du aber noch mal zwei Kilometer höher. Du musst ständig deine Wahrnehmung überprüfen. Wenn dir ein dreiköpfiges Huhn oder Kaiser Barbarossa erscheint, sagst du Bescheid, und wir drehen auf der Stelle um.
Ich werde immer bei dir sein, ich werde dich führen, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Aber da oben kann alles passieren, und wenn mir irgendein kenianischer Vollprofi seine Steigeisen in die Halsschlagader rammt, stehst du allein da und fragst dich, wie du heimkommst.
Es waren diese Tage, in denen er vieles begriff. Er würde nie ein erfülltes Leben führen können, wenn er nicht versuchte, es einer Sache zu widmen, die größer war als er. Es mochte etwas sein, was er jetzt noch nicht kannte und nicht verstand – sein Leben sollte nicht beschränkt sein auf Inhalte, die den Menschen in Ketten legten, und es sollte nie bestimmt werden von Angst, diesem Monster. Freiheit indes, er fühlte es so stark wie nie, war das höchste Gut. Physische, geistige, seelische Freiheit. Kostbarer als Gesundheit. Wertvoller als Glück. Wichtiger als das Leben selbst.
Man wird älter und älter, und man wartet. Etwas wird passieren, etwas Großes. Das Leben, das man führt, steuert zweifellos auf einen Höhepunkt zu, hinter dem die Versöhnung liegt, die Läuterung, das Glück – unausweichlich und unabänderlich. Eines Tages wird alles gut. Das Heute ist fehlerhaft, das Morgen wird vollkommen sein. Man wird älter und älter und wartet noch immer. Kämpft noch immer, mit der Welt und mit sich selbst, und das Erhabene, es will nicht kommen. Die Versöhnung mit sich und mit der Welt lässt auf sich warten, das Glück ist nicht perfekt, die Besserung nicht in Sicht. Mitunter scheint alles gar unmerklich abwärts zu gehen. Man wartet weiter. Und fühlt eine dumpfe Sorge aufsteigen. Sorge wird zu Angst, Angst wächst zu Entsetzen, Entsetzen schlägt um in Trauer, Trauer verwandelt sich in Unglaube.
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