Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!
14492 Verse später...
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick.
Darum...
Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.
Denn...
Dasein ist Pflicht,
und wär's ein Augenblick.
Also...
[...] lies Goethes «Faust» - da ist Nahrung für jeden denkenden und empfindenden Menschen, der noch mehr erstrebt als das Zwei mal Zwei ist Vier der hausbackenen Alltäglichkeit. (Rudolf Steiner)
Allgemeiner Aufruf zur Relektüre des FAUST.
Oder Erstlektüre.
Oder Anschauen.
Am Besten im Theater.
Warum?
(Falls es denn einen Grund bedürfe für die Suche nach dem, was auch immer der Mensch sein mag.)
In der Hoffnung, die Phantasie vermag „Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge“ zu überwinden, denn „[w]enn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel.“
Also viel lieber der „Naturlangsamkeit“ mit Lesen frönen, weil „[m]an weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.“
(Zitierungen nach Goethe himself.)
Und natürlich in der Hoffnung eine Antwort auf die Frage zu finden, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält“:
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.
Dazu eine heiße Schokolade (*) zubereiten, die „Zäh und dickflüssig, schwarz wie die Nacht vor einem schweren Gewitter“ ist, und diese beim Lesen „in kleinen Portionen, heiß, aber nicht zu heiß, in kleinen Tassen und – im Idealfall – mit Silberlöffeln“ verzehren.
(Obendrein kann es nicht schaden, zugleich Taschentücher, einen Boxsack, die Schulter eines geliebten Menschen oder im besten Fall alles drei parat zu halten.)
(*) Keine Angst vor dem Fluch der heißen Schokolade, denn „Für jeden Fluch gibt es einen Zauberspruch, der ihn unschädlich macht“.
Warum 1279 Seiten viel zu kurz sind / georgische Streifzüge durch den Roman:
Die Gewöhnung ans Denken verhindert manchmal die Wahrnehmung der Wirklichkeit, macht gegen sie immun und lässt sie lediglich als einen weiteren Gedanken erscheinen.
Da aber das Ich davon lebt, unablässig an eine große Zahl von Dingen zu denken, ja, eigentlich nichts anderes ist als das Denken an diese Dinge, findet es, wenn es zufällig einmal nicht diese Dinge vor sich hat und stattdessen plötzlich an sich selbst denkt, nur einen leeren Apparat vor, etwas, das es nicht kennt [...]
Das Leiden strebt, als Auswirkung eines erlittenen moralischen Schocks, nach Veränderung seiner Form, man hofft, es in Rauch auflösen zu können, indem man Pläne schmiedet, Auskünfte einholt, man will, dass es seine unzähligen Metamorphosen durchläuft, denn das erfordert weniger Mut, als seinem Leiden freien Lauf zu lassen; das Lager, auf das man sich mit seinen Schmerzen bettet, erscheint so eng, so hart, so kalt.
entkommen
Zusammensein ist die reparativste Praktik, die ich kenne. Weil wenn die Angst reinkickt, wird das Entkommen nie ein individueller Akt sein.
Der Moment der Wahrheit: ein Ablassen von sich selbst, trotz der aufrichtigen Erkundung des Grauens, in dem man sich befindet; ein Übergang in die Zusammenhänge der Welt, die mehr ist, als man jemals sein kann; das Lachen beim Abschmirgeln der eigenen Idiotie.
Lange habe ich versucht, mir mein Existieren als andauernden Bewältigungsmechanismus vorzustellen. Dabei wusste ich eigentlich schon immer, dass ich kollaborative Zusammenhänge der Isolation vorziehe. Trotzdem habe ich mich oft isoliert. Ich wollte mich, für mich selbst, ganz tief reingraben in die Gegenwart; ich kauerte in ihr, ich kaute in ihr an meinen Fingernägeln rum. Ich wollte verstehen, was mich umgab. Was mich umgab, ballerte sich in meine Bewusstsein und blieb da.
transzendieren
Unumgrenzt
Wir machen zu viel Geschichte.
Mit oder ohne uns
Sind da die Stille
Und die Steine und das ferne Gleißen.
Was es aber gilt, zu sein,
ist, oh, der kleine Sang der Schwalben
am ewig abendtrüben
Wasser unter Weiden.
Zu sein heißt, zu wissen, dass der Fluss
Lachse fasst und der Ozean
Wale, so sacht
wie Körper Seelen fassen
in der Gegenwart, in der Gegenwart.