Folgenden Brief schrieb ich meiner kleinen Nichte 2018 aus der Ukraine, wenige Tage nach dem Grenzübertritt von Sighetu Marmației (Rumänien) nach Solotwyno über den Fluss Tisa.




Center of Europe, 28.07.2018

Liebe H.,
heute schreibe ich Dir wieder eine Geschichte, sie heißt:
Das Lächeln des Soldaten (UT: „Nur noch ein letztes kleines Abenteuer...“)
„Glück gehabt“, sagte sich Dein Onkel, Graf Dracula hat ihn nicht erwischt in Transsylvanien, kein Blut verloren, auch nicht an die Bären. Und so ging er seinen Weg weiter, denn seine Richtung war seit jeher Nordwesten, Richtung Heimat. Doch abenteuerlich blieb es wie immer so so traf er vor Kurzem auf den Fluss Tisa, an eine weitere Landesgrenze, Nummer 8 auf seiner Reise. Doch keine gewöhnliche Grenze, denn er befand sich außerdem am Außenrand einer Union, das ist ein Zusammenschluss vieler Länder um in der Gemeinschaft stark zu sein. [...] Die Geschichte spielte sich also an jener Grenze ab, wo auf der einen Seite der Zug endete und auf der anderen Seite die Gleise erneut starteten. Auch ging es hier nur zu Fuß über den Fluss, eine 200m lange alte Holzbrücke, die dein Onkel mitsamt Rucksack trug. Mit dem Pass aus dem Heimatland war die Ankunft im neuen Land kein Problem, „Touriste, Touriste...“ und mit Blick auf meine glasklar befüllte Wasserflasche meinte der Grenzer: „Vodka?“, mit einem Lächeln im Gesicht. Zu fortgeschrittener Zeit suchte sich der Onkel nur noch ein Lager für die Nacht. Nur noch? Naja nicht ganz, aber der Fluss versprach viel Grün drumherum und so fand sich auch nach nicht allzu langer Zeit ein schönes Plätzchen am Fluss. Gleich mal rein springen und den Schweiß des Tages, eher der Tage... abwaschen. Wie erneuert begann also die Routine des Zelt aufbauens und es war auch schon Zeit für das Abendmahl. In der Ferne grollte der Donner und blitze zuckten am Himmel, doch blieb es trocken und angenehm warm. So alleine am Abend bietet sich das Lesen an und so verschlang dein Onkel eine Geschichte nach der anderen auf seiner Reise. Wirst du auch mal eine große Leserin? Die Literatur kann dir viel geben und ich wünsche dir viel schöne Geschichten, Märchen, Fantasien und fremde sowie bekannte Welten. So wurde es dunkel und nichts als das Rauschen des Fluss war zu vernehmen. Fast schon aufs Ohr gelegt, blieb es aber nicht dunkel, der Strahl einer Taschenlampe erfasste das Zelt. Angler? Jugendliche? Hmm weit gefehlt, nagut jung war er, der Mann vor dem Zelt, doch keine Angelroute sondern ein Maschinengewehr hielt er vor dem Bauch. Welch Schreck! Auch er schien überrascht, seinen Gesichtsausdruck nach zu urteilen. „Touriste, Touriste; Camping, Camping; Passport, Passport“ fiel dem Onkel da nur ein. Und so begann sie, die lange Nacht mit den Soldaten. [...]
Nunja, da kniete er also in Unterhose, vor mittlerweile zwei jungen Grenzern, könnten halb so alt gewesen sein, und es wurde telefoniert. Richtige Angst verspürte der Onkel eigentlich nicht, machte sich mehr Sorgen um den Rest des Abendessens im Topf... aber nach einer Weile konnten die Gesten nur „Packen“ bedeuten. Stell die das mal vor... Nachts und fast ohne Licht, den riesigen Rucksack [...] packen, zum Glück schienen die Zwei ganz entspannt. Dann kam ein Auto, zwei neue Soldaten, einer schien der Chef zu sein. Salutiert, gemeldet und immer noch kein Englisch in Sicht- bzw. Hörweite. Die Stimmung schien dennoch nicht angespannt und so ging es ab zur Wache - die Grenze welche der Onkel Stunden zuvor übertrat. Weißt du, bei Soldaten geht alles sehr geordnet - dennoch scheint keiner zu wissen, was mit dem „Touriste“ zu tun sei. Schließlich bekam der Onkel ein Telefon mit einem des Englischen Mächtigen in die Hand gedrückt. Nun, die Mitteilung auf der Grenze gezeltet zu haben war keine Neuigkeit mehr, doch endlich die Zusage, dass es keine Folgen haben wird und in ein Hotel soll es gehen, aber nicht mal Geld hatte der Onkel getauscht... Doch zunächst ging es mit dem Aufpasser raus und auf den Chef warten, da waren wohl noch weitere Grenzgängerkonflikte zu lösen. Am Ende zog sich das Verhör drinnen über zwei Stunden hin, Onkel war müde und kalt. Der steife Soldat allerdings, schien auch des Wartens müde zu werden und was gibt es Besseres zu tun, als Bilder auf dem Telefon anzuschauen? Als er dann näher rückte und mir die Fotoalben der vergangenen Jahre zeigte, wurde dem Onkel wieder warm, zumindest ums Herz. Da waren Rucksacktouren mit Papa (?) in den wilden Karpaten, Schneeballschlachten mit Kumpels im tiefen Schnee, einsame Schlösser, weite Landschaften, Menschen und schließlich eine kleine Tochter, ein herzergreifendes Lächeln, auch bei dem gewonnenen „Soldatenfreund“. Als alle Bilder beschaut waren, blieb nur noch das Spielen mit den Straßenhunden, die ganze Nächte hindurch bellen und jaulen können. Es ging auf 2 Uhr zu als sich drinnen etwas regte und der Chef schließlich fertig war. Ein Hotel wäre jetzt schon was Feines gewesen, aber auf die Frage hin, ob Hotel oder Camping, fiel dann doch die Wahl auf Letzteres. So ging es ewig durch die laue Nacht, dem Onkel ganz bange wieder zurück zu finden, bis schließlich Lichter, Hüttchen, noch mehr Hüttchen, Musik, Stimmen, Gerüche, Polka - ja Nachtleben zu hören und sehen war. Das ging auch nach weiteren 10 Minuten Fahrt so - ohje, wo endete das wohl? Immerhin, einem Soldaten wird jedes Tor geöffnet und der „Touriste“ kam sich bald als sehr wichtige Persönlichkeit vor. Schließlich, irgendeine Wiese mit Autos und Zelten und Hüttchen und Musik und (vermutlich) Vodka, zwischen Seen - ein Platz für den Onkel. Er war im bekannten Salz- See- Naherholungsgebiet gelandet, übrigens mit ähnlich hohem Salzgehalt wie im toten Meer [...]. Wenn du noch nicht eingeschlafen bist, dein Onkel war es dann irgendwann nach 3 Uhr...
... nur um gar nicht so viel später von den Scharen der Urlauber und Badegästen, und der stechenden Sonne geweckt zu werden. Das Zelt noch nicht richtig aufgemacht, da stand er, lächelte mit seiner Bierflasche in der Hand und sprach wild-freundlich auf den Onkel ein. Was will er nur? Einen Flaschenöffner? Irgendwas klingt dann doch bekannt: „Kupsche“, „Kuppje“ oder so - na klar - ein Becher. Bier zum Aufstehen, Prost, die Welt ist in Ordnung. [...]
Ende.
Heute wünsche ich dem unbekannten Soldaten von ganzem Herzen, dass er seine Tochter ohne Angst in den Arm nehmen, ganz fest an sich drücken und aufwachsen sehen kann.

War is out-dated – non-violence is the only way.
The Dalai Lama, February 28, 2022

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